Was ist Papiertheater?

 

Was ist Papiertheater?
 
von Benno Mitschka und Christine Schenk
 
Papiertheater ist im Prinzip so etwas wie die 3D-Spielkonsole eines theaterbegeisterten
Bildungsbürgers im 19. Jahrhundert. Nach ihrem Theaterbesuch kauften viele Zuschauer
Ausschneidebögen mit Dekors und Figurinen, die sich im Design an die besuchte
Aufführung anlehnten. Im Kreise der Familie bastelte man dann die Kulissen, schnitt die
Figuren aus und erweckte diese auf der eigenen Miniaturbühne durch phantasievolle
Inszenierung zum Leben. Ein beliebtes Mittel hierzu war zum Beispiel der Einsatz damals
gängiger Spezialeffekte.
Das Repertoire umfasste in der Anfangszeit die beliebtesten Produktionen aus Oper und
Drama. So standen neben der Zauberflöte, dem Fidelio und dem Freischütz auch die
großen Schauspiele Faust, Wilhelm Tell, Käthchen von Heilbronn und Hamlet auf dem
Spielplan der häuslichen Bühnen. Später erfreuten sich dann auch Märchen einer immer
größeren Beliebtheit: Rotkäppchen, Hänsel und Gretel oder Schneewittchen hielten ihren
Einzug auf den häuslichen Miniaturtheatern. Neben der Befriedigung der eigenen
Theaterleidenschaft hatten diese kleinen Bühnen aber auch einen ganz praktischen
Zweck: Beim gemeinsamen Spiel konnten Eltern ihre Kinder gleichzeitig mit dem
klassischen Bildungskanon vertraut machen und ihnen zugleich auch Werte vermitteln.
In der Regel sind die Papiertheater mit einem Proszenium – dem festen Portal vor der
Bühne – und einem Vorhang ausgestattet. Viele der Proszenien hatten bekannte Bühnen
zum Vorbild.
Die Bühnenbilder bestanden aus einem Bühnenprospekt sowie einem bis mehreren
seitlichen Kulissenpaaren, die für die erstaunliche dreidimensionale Wirkung dieser Mini-
Räume sorgten.
Die Figuren wurden auf Hölzchen oder Drähte aufgeklebt und während des Spiels
innerhalb der Kulissengassen hin und her bewegt. Die Figurenführung konnte zwar auch
wie beim Marionettentheater von oben erfolgen, in der Praxis setzte sich aber eher die
Führung von der Seite durch.
Die kleinen und großen Akteure konnten so bei der Vorbereitung ihrer heimischen
Theateraufführung nicht nur Wissenswertes über den Inhalt und die Kunst des
Inszenierens des jeweiligen Stückes erfahren, sondern auch viel über Bühnentechnik,
Perspektive, Licht und Geräusche.
Gerade Schwaben kann auf eine lange Papiertheater-Tradition zurückblicken, gelten die
Augsburger Kupferstecher Martin und Christian Engelbrecht mit ihren Guckkasten-
Blättern und Papierkrippen doch als deren Wegbereiter.
Zu den wichtigsten Papiertheater-Verlagen aus dem deutschen Sprachraum zählten der
Esslinger Schreiber-Verlag, Joseph Scholz in Mainz, die Neuruppiner Gustav Kühn und
Oehmigke & Riemschneider, Winckelmann aus Berlin und Trentsensky in Wien. Sehr
populär war dieses Medium darüber hinaus auch in Dänemark, Großbritannien, Holland
und Spanien.
Mit der zunehmenden Verbreitung von Radio, Film und später Fernsehen geriet das
Papiertheater immer mehr in Vergessenheit.
Gerade aber in den letzten Jahren erlebt diese Kunstform wieder eine Renaissance, da
vor allem immer mehr Eltern, Lehrer und andere Erzieher entdecken, wie sehr diese
Miniaturtheater die Phantasie und die Entdeckungsfreude der Kinder anregen. Ganz
nebenbei eignet sich der Nachwuchs spielerisch Fähigkeiten an, die dann auch einmal im
Berufsleben sehr wichtig sein werden: eine gute Aussprache, freie Rede sowie ein
selbstbewusster Auftritt in der Öffentlichkeit.